Donnerstag, 24. November 2016

Man muss nicht immer versuchen, ein Einhorn zu werden

Ich habe ein Hämatom mitten auf der Nase. So in etwa münzgroß, richtig direkt auf der Nasenwurzel zwischen den Augen. Man könnte meinen, dass es in meinem Umfeld keinen mehr gäbe, der mich noch nicht darauf angesprochen hätte.
Tatsächlich ist es aber bis auf meiner Mutter noch niemandem aufgefallen. Verrückt, oder?!

Da hat man quasi ein leuchtendes Schild im Gesicht und trotzdem schauen alle darüber hinweg. Wie blind können Menschen nur für das sein können, was sie direkt vor Augen haben!
Während ich weiter darüber nachdachte, was Menschen alles nicht bemerken, weil sie so angestrengt über die Dinge nachgrübeln, wurde mir klar, dass ich selbst nicht ansatzweise besser bin. Vielleicht nicht unbedingt, was das Entdecken von Hämatomen im Gesicht meiner Mitmenschen geht, sondern vielmehr, wenn es zum Thema Selbstkritik kommt. Ständig fokussiert man nur auf das negative, alles andere wird übersehen.

Da wäre zum Beispiel der Post zum Thema Selbstbild des Körpers. Da wäre auch mein ständiges Grübeln, warum alle so glücklich und selbstsicher wirken und gefühlt nur ich dauernd an mir zweifle und sehe, was ich alles nicht kann und darüber dann die Gedanken kreisen lasse, um mich gezielt und sicher in Panik und Verzweiflung zu manövrieren. Klassiker zu diesem Stichwort wäre das Thema, dass ich mich inzwischen am Ende des Studiums befinde und damit regulär keine zwei Jahre mehr habe, bevor ich dann offiziell mit einem Schildchen, das mich als Arzt zu erkennen gibt, vor den Patienten trete. Dabei gibt es so unendlich viel, was ich noch nicht oder - noch viel schlimmer - nicht mehr weiß. #omgichwerdesiealleumbringen

Mit all den Dingen im Sinn, die an mir nicht perfekt sondern verbesserungsbedürftig sind, mache ich Pläne in meinen Gedanken. Dinge, die ich lernen muss, Punkte, die ich ändern sollte und so entwerfe ich Schritt für Schritt das Idealbild meiner Selbst, das ich in ein paar Jahren sein möchte. Es erscheint mir dann mit jeder weiteren Minute, die ich in diese Art der Planung investiere, dass ich noch desorganisierter, ungebildeter, tollpatschiger, selbstunsicherer und langweiliger wäre, als es tatsächlich zutrifft. Es tut nicht gut, immer nur die Fehler heraus zu picken und auf ihnen herum zu hacken.

Der Song In My Mind von Amanda Palmer fasst dieses ständige Streben nach einem perfekten Selbst in der Zukunft perfekt zusammen. Das Bewusstsein über die eigenen Fehler führt zu Unzufriedenheit mit der Gegenwart, die in Rastlosigkeit übergeht und leicht zu viel zu viel Verbitterung der eigenen Person gegenüber verleitet.
Wir sollten es öfter so machen wie Amanda, die, nachdem sie in ihrem Song ihre ganzen unrealistischen, alten Vorstellungen und Ansprüche an sich selbst mit der tatsächlichen Entwicklung verglichen hat, nach anfänglicher Frustration erkennt, dass man so wie man ist bereits viel erreicht hat und auch mal für einen Moment ruhig durchatmen sollte, um der Erkenntnis eine Chance zu geben, dass man auch im Hier und Jetzt genau der Mensch sein könnte, der man in diesem Moment sein möchte. Dass es gut ist, der Mensch zu sein, zu dem man sich entwickelt hat.



Veränderung und Bewegung nach vorn ist wichtig im Leben. Trotzdem sollte man sich einmal zurücklehnen und mit ein wenig Abstand erkennen, dass man eben nicht nur in Richtung Zukunft voran arbeiten muss, um irgendwann eventuell dem Ideal von einem selbst zu entsprechen. Es gibt nämlich mehr als das große ganze Bild und mit diesem Wissen können wir im Alltag die Augen öffnen, um die kleinen Dinge zu sehen. Die Hämatome auf den Nasen unserer Mitmenschen, unsere kleinen Erfolgsmomente und die täglich aufblitzenden Momente des Glücks. Dass wir nicht nur immer weiter ackern müssen, um ein Endziel zu erreichen, sondern dass wir auch schon ganz viele Dinge geschafft und erlebt haben und darüber glücklich sein können, uns zu dem entwickelt zu haben, was wir sind.  Denn es lebt sich viel schöner, wenn man nicht übersieht, was in der Gegenwart passiert und wie gut das Jetzt eigentlich ist. Ich vergesse nur immer zu gern, mich selbst daran zu erinnern.

Oder wie Amanda Palmer es so schön auf den Punkt bringt:
Fuck yes - I'm exactly the person that I want to be!

Donnerstag, 3. November 2016

Sitzplatz!

... so lautet zumindest bei mir die Standardaufforderung an Menschen, die mit dem wilden Hüpfen und Tanzen vor der Bühne bei Konzerten nicht zurecht kommen und sich beschweren, dass man bitte nicht während die Musik läuft sich zu sehr bewegen oder gar schubsen soll. Das wäre ja hier schließlich keine Veranstaltung zum Tanzen oder gar Spaß haben…
Ist man mental nicht Willens oder in der Lage, sich der Musik hin zu geben und mitzumachen, dann ist man in meinen Augen ein Fremdkörper in der Gruppe vor der Bühne und so ein klarer Fall für den Sitzplatz. Damit meine ich natürlich nicht in Opern oder klassischen Konzerte, für die ein Sitzplatz ausnahmsweise völlig in Ordnung ist.

Nach langen Monaten der Abstinenz was Konzerte angeht, habe ich heute endlich wieder eins besucht. Dieses mal war ein Punkt von vorn herein anders als gewohnt: ich wusste von Anfang an, dass ich einen Platz im Rang haben würde. Und das heißt konkret - Sitzplatz!

Oh je, Sitzplatz?! Das ist doch die inoffizielle Höchststrafe, wenn live Musik gespielt wird, die einem gefällt. Immerhin drängt dann jeder Muskel zuckend in mir, sich zur Musik zu bewegen und mitzuhüpfen, was auf der Freifläche vor der Bühne am besten funktioniert. Auf einem Sitzplatz gefangen zu sein, bedeutet dagegen, in der Bewegung eingeschränkt zu sein und nicht in die zur Musik wogende Menschenmenge eintauchen zu können.
Aber das waren ja nur meine Vorstellungen, die ich nie auf ihren Wahrheitsgehalt überprüft hatte. Man sollte Dinge nicht beurteilen, bevor man sie ausprobiert hat und da ich eh keine Wahl hatte, begab ich mich schließlich zu meinem Sitzplatz.

Immerhin war es möglich, sich den Sitzplatz frei auszusuchen. Fluch und Segen zugleich, wie sich herausstellen sollte, denn die Sitzplätze der Balkone der Arena, in der das Konzert stattfand, waren zumindest in der ersten Reihe an der Brüstung schon sehr gut gefüllt und ich fürchtete kurz, nur noch ganz hinten etwas zu finden. Im eine Etage höher gelegenen nächsten Rang fand ich aber nach kurzer Suche noch einen Sitzplatz in der zweiten Reihe hinter der Brüstung. Phew, noch mal gut gelaufen.

Zu meiner Überraschung war der Blick auf die Bühne großartig. Ein komplett anderer Eindruck, als unten in der Menge zu stehen. Jetzt konnte ich die ganze Halle erfassen mit ihren zwei Reihen der Balkone voller Sitzplätze, den beleuchteten Notausgängen dazwischen sowie des Setups von Technik und Tontechnikern. Zum Beobachten war das die perfekte Position, so viel Übersicht über die gesamte Konzerthalle hatte ich noch nie. Sonst fokussiere ich mich immer allein auf das Bühnengeschehen, während all die Menschen hinter mir ausgeblendet werden.
Auch die Seitenzugänge zur Bühne lagen gut in meinem Sichtfeld, sodass ich die Wege des Sängers von der Bühne ins Publikum oder auch einmal um selbige herum gut beobachten konnte.

"Thank you for wasting your phone battery on me. What a nice compliment!" 
Als die aus einer Person bestehende Vorband dann auf die kam, hatte ich einen idealen Überblick darüber, erfasste aber direkt, warum Sitzplatz für mich seit Jahren eine Beleidigung war: man ist zwar anwesend aber nicht wirklich dabei.
Während die Menge vor der Bühne springend und schreiend sich in der Musik verliert und die Emotionen auslebt, ist man selbst in seinem Sitzplatz ordentlich nebeneinander platziert und somit gefangen. Klar, man kann aufstehen, die Arme hoch reißen, die gesamte Bühne überblickend jubeln und doch ist es ein sehr viel distanzierteres Erlebnis.
Niemand rammt einen im Rausch der Musik von hinten, niemand fängt einen danach auf. Kein Springen, bis die Waden schmerzen, kein nach vorn geschwemmt werden und den Drummer aus nächster Nähe dabei beobachten, wie ihm der Schweiß vom Gesicht tropft während man selbst merkt, wie einem der Schweiß den Rücken entlang läuft, weil man sich körperlich so verausgabt. Es ist schon ein herabgesetztes Konzerterlebnis, alle Eindrücke gefiltert durch physische Distanz und Einschränkung der Bewegungsmöglichkeiten.

Auch die Band interagiert vor allem mit dem Publikum vor der Bühne. Man fühlt sich ein bisschen ausgeschlossen auf den Rängen selbst wenn man die besten Bilder davon schießen kann, wie der Sänger sich beim Stagediving ins Publikum wirft. Schon seltsam, bei einem Konzert überhaupt das Handy zu zücken.

Besagte schöne Bilder sind zwar super, um sie auf Social Media Seiten zu posten oder seine Freunde zu beeindrucken, aber das eigentliche Konzerterlebnis gefällt mir persönlich vor der Bühne im Gedränge der Menge unendlich viel besser. Denn auf dem Sitzplatz kann man die Show perfekt ansehen und fotografieren, aber nur vor der Bühne ist man meiner Meinung nach live wirklich dabei.